Wir sind die Früchte der Aufgeklärten Gesellschaft. Und die Menschenwürde ist ihr Stamm.
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Warum die Menschenwürde unverhandelbar ist
Vor wenigen Wochen erregte der Aufmacher der Online-Ausgabe einer großen, renommierten deutschen Wochenzeitung Aufsehen mit der provokativen Schlagzeile „Oder sollen wir es sein lassen?“ Gemeint war die Seenotrettung Geflüchteter im Mittelmeer. Warum alleine schon die Frage eine Ungeheuerlichkeit ist, möchte ich im Folgenden belegen.
Inhaltsangabe:
Die Grundwerte der Aufgeklärten Gesellschaft
Können wir über die Menschenwürde diskutieren? Oder stellt ein Diskussionsverbot einen „unterdrückerischen Akt“ einer „Meinungsdiktatur“ dar? Ich halte die Frage für recht leicht zu beantworten: Die Menschenwürde ist nicht verhandelbar, nicht diskutierbar und ist unveräußerlich.
Denn aus der Menschenwürde leiten sich alle weiteren Rechte ab. Eben auch das Recht auf freie Meinungsäußerung. Es ist geradezu grotesk, die Menschenwürde in Frage zu stellen und sich gleichzeitig auf die Meinungsfreiheit zu berufen. Denn mit der Infragestellung des zentralsten aller Grundwerte unserer Gesellschaft fällt auch die Begründung für die Meinungsfreiheit weg. Wer die Menschenwürde verneint oder anzweifelt, zweifelt auch die Berechtigung unserer aufgeklärten Gesellschaft insgesamt an. Und das kann sie nicht zulassen. Es sollte daher klar sein, dass die Menschenwürde nicht ohne Grund einen besonderen Schutzwert in unserer Gesellschaft genießt. Sie hat vor allen anderen Rechten die allerhöchste Vorrangigkeit.
Die Achtung der Menschenwürde der Schwächsten – Die nobelste aller Pflichten der Aufgeklärten Gesellschaft
Die Menschenwürde begegnet uns immer dann, wenn die Schwächsten unserer Gesellschaft in ihren Rechten bedroht sind, oder sich auf der Welt wieder einmal eine humanitäre Katastrophe abspielt. Solidarität ist ein Grundbaustein unseres Gesellschaftmodells. Die Starken unterstützen die Schwachen. Das klappt oftmals auf freiwilliger Basis und manchmal eben mit gesetzlichen Verpflichtungen.
Und das ist auch gut so.
Aber wir vergessen dabei sehr schnell, wie sehr wir auch dann von der Menschenwürde profitieren, auch wenn wir selbst nicht in der Position des Schwächsten sind...
Wir sollten in der Achtung der Menschenwürde auch den Respekt vor unserer eigenen Würde sehen. Die Wahrung der Grundrechte der anderen ist immer auch der Schutz unser eigenen Rechte.
Und die Menschenwürde ist sogar noch mehr als „nur“ der Garant für unsere eigene Würde und die eines jeden anderen Menschen. Sie ist der zentrale Knoten, der all unsere Grundrechte und die aus ihr folgenden Rechtsgüter zusammenhält
Emanzipation ist mehr als „nur“ die Ausstattung mit gleichen Rechten zwischen Frau und Mann
Nach dem die Frauenbewegung in den letzten 100 Jahren große Erfolge feiern konnte, glauben manche Menschen, die Gleichberechtigung wäre damit abgeschlossen. Sie scheinen eine große Verschwörung zu wittern und dass sich Frauen nun nur noch Privilegien sichern wollen würden. Dabei begehen sie einen gewaltigen Denkfehler.
Denn im juristischen Sinne mögen die Frauen den Männern gleichgestellt sein. Aber die gleichen Rechte zu haben, heißt noch lange nicht, auch die gleiche Würde zu besitzen.
Die Frauenbewegung fordert dabei nur das ein, was andere vor ihr auch schon erlangt haben: Das Bürgertum hat sich seine Souveränität und seine Würde gegenüber dem Klerus und dem Adel erkämpft. Und die Arbeiter erstritten sich ihre Rechte und Gleichrangigkeit gegenüber dem Besitzbürgertum.
Und so wie die Frauen nun schon seit über 100 Jahren für ihre Gleichwürdigkeit streiten, so ist die Frauenbewegung nun ein Vorbild für andere emanzipatorische Bewegungen: LGBTI, Menschen mit migrantischen Wurzeln und Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung, etc.
Warum sollten all diese Gruppen nicht den gleichen Weg gehen, den einst schon unsere Vorfahren gegangen sind und uns so von der Knechtschaft der Ständegesellschaft befreit haben?
„Ach, verschon‘ mich doch mit der Menschenwürde! Wir haben ganz andere Probleme.“
Nein, haben wir nicht. Denn Lösungen für unsere akuten Probleme, wie beispielsweise bezahlbarer Wohnraum, Teilhabe am Wohlstand der Gesellschaft, das Recht auf Würde im Alter oder eine angemessene Gesundheitsversorgung, können wir nur deshalb einfordern, weil diese Rechte unmittelbar mit der Würde jedes Einzelnen verknüpft sind. JEDER Mensch hat einen Anspruch darauf, ein Leben in Würde zu führen. Und die Rechte, die sich daraus ableiten, machen unsere Gesellschaft zu dem, was sie heute ist.
Das souveräne Individuum meistert die Komplexität dieser Gesellschaft selber
Und selbst wer meint, dass er von all diesen sozialen Errungenschaften nicht profitieren würde, profitiert dennoch von der Menschenwürde. Denn sie basiert auf der Gewissheit eines lernfähigen und souveränen und mündigen Individuums. Ohne dieses Konzept gäbe es keine Vertragsfreiheit. Menschen könnten keine selbstbestimmten Handlungen ausführen, ohne einen „Höhergestellten“ um Erlaubnis zu fragen. Man stelle sich mal vor, wie die Komplexität unserer Gesellschaft bewerkstelligt werden solle, wenn wir immer noch in einer streng hierarchisierten Gesellschaft leben würden.
Hierarchisch-autoritäre Gesellschaften hingegen erwecken nur den Anschein eines Erfolgsmodell. Denn erstens können sie ihr Scheitern besser vertuschen. Und zweitens führt die Unterwürfigkeit und die Abhängigkeit vom Machtapparat zu einer hohen Korruption. Denn Untergebene haben keine Chance, sich gegen die Willkür eines übergeordneten Machthabers zur Wehr zu setzen.
... und dennoch gibt es viel zu korrigieren.
Es gibt zweifellos viele Fehlentwicklungen, die korrigiert werden müssen. Es wurden in der Vergangenheit gewaltige Fehler gemacht, die Zweifel an dem hohen Anspruch unserer Gesellschaft aufkommen ließen. Einer der Fehler war Harz-IV und der Niedriglohnsektor.
Auf der einen Seite stehen die ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse, von denen die Betroffen vielleicht gerade mal so leben können, auf der anderen Seite liefern Top-Manager ein Totalversagen nach dem anderen und treten trotzdem nur mit einer dicken Abfindung in Millionenhöhe ab.
Das empfinden viele Menschen zu Recht als Schieflage. Aber heißt das, dass unsere Gesellschaft im Ganzen versagt hat? Brauchen wir deshalb etwa eine andere Gesellschaftsordnung?
Die Frage scheint wieder populär zu werden in diesen Tagen. Und diese Frage ist gefährlich.
Je ausdifferenzierter eine Gesellschaft ist, desto wichtiger wird die Arbeit am gesamtgesellschaftilchen Zusammenhalt
Demokratie sei, die Diktatur der Mehrheit über die Minderheit, behaupten manche Menschen. Sie vergessen oder verschweigen aber, dass es ohne Minderheitenrechte keine Demokratie geben kann. Denn Minderheitenrechte sind der Belastungstest für die Unveräußerlichkeit der Grundwerte aller Menschen.
Es wird hier gerne eine vermeintliche Rationalität in einen Gegensatz zu Empathie und Solidarität gestellt. Aber hier zeigt sich nur, wie kurz gedacht das Bild „Rationalität vs. Moralität“ ist. Leider lassen wir uns auch genau das einreden. Wir glauben, wir achten die Grundrechte der Schwächsten „nur“ aus moralischen Gründen. Dabei schützen wir die unveräußerlichen Grundrechte ALLER Menschen (wozu natürlich auch die Schwächsten gehören). Und das ist eben im höchsten Maße rational, so wie es eben AUCH moralisch geboten ist.
Denn wenn ich weiß, dass ein Rollstuhlfahrer nicht einfach nur seinem Schicksal überlassen wird, sondern dass er die Unterstützung bekommt die er braucht, weiß ich auch, dass meine gesundheitliche Versorgung ebenfalls gesichert ist.
Emanzipation – Das Recht auf Milieu-Zuflucht oder das Recht auf Zugang zur Gesamtgesellschaft?
Es drängt sich eine Frage auf: Was ist eigentlich das Ziel einer Forderung nach Gleichberechtigung? Ist es das Recht darauf, in seiner eigenen Nische zu leben und ansonsten mit dem „Rest der Welt“ nichts zu tun haben zu wollen? Bedeutet das Recht „Gleicher unter Gleichen“ zu sein, sich einer homogenen Gruppe anzuschließen, die sich nicht einer "Mehrheitsgesellschaft" anschließen muss?
Diese Frage lässt sich nicht so leicht beantworten. Immer wieder stolpert man über Diskussionen darüber, ob ein gehörgeschädigtes Kind auf eine entsprechende Förderschule gehen, oder ob es besser auf einer Regelschule verbleiben solle. Auf einer Regelschule droht ihm das Außenseitertum. Auf einer Förderschule droht ihm hingegen das Abgehängt-Werden von der „Mehrheitsgesellschaft“.
Mir erscheint das Dilemma ‚Flucht ins eigene Milieu‘ vs. ‚Bedeutungslosigkeit bzw. drohende Diskrimierungserfahrungen in der „Mehrheitsgesellschaft“‘ symptomatisch für die meisten Emanzipationsbewegungen unserer Gesellschaft zu sein. Dabei habe ich den Eindruck, dass bei den meisten Gruppierungen die Tendenz zur Milieu-Zuflucht überwiegt.
Und für den gesellschaftlichen Zusammenhalt hat dies meines Erachtens fatale Folgen. Die Auswirkungen einer Abgrenzung der Milieus untereinander und der immer weiter vorantreibenden gesellschaftlichen Ausdifferenzierung werden nur sehr verspätet sichtbar. Denn der „Mehrheitsgesellschaft“, bzw. Vertretern anderer Milieus bleibt der kontinuierliche Aufwand erspart, sich mit den Konsequenzen der Vielfalt auseinanderzusetzen. Dadurch kommt es jedoch zu einem noch viel größeren Clash, wenn unterschiedliche Milieus dann doch zusammentreffen.
Ich plädiere daher dafür, dass wir den Individuen mit all ihren Eigenheiten in der „Mehrheitsgesellschaft“ zu ihrer Geltung verhelfen. Und dass wir ihre Rechte und die gesellschaftliche Akzeptanz ihnen gegenüber stärken. Dazu müssen wir auch die Abgrenzungen der Milieus untereinander aufweichen und Möglichkeiten der Begegnung schaffen.
Zur Randgruppe wird man gemacht
Wer käme auf die Idee, BMW-Fahrer als gesellschaftliche Minderheit oder gar als Randgruppe zu bezeichnen? Oder Kleingarten-Besitzer/-innen. Oder Strickfreunde/ Strickfreundinnen?
Zahlenmäßig sind sie auch nur jeweils ein kleines Grüppchen von vielen in unserer Gesellschaft. Nicht der Mangel an Personenstärke führt zur Marginalisierung einer Gruppe. Sondern es ist eher der Mangel an Sichtbarkeit. Und folgerichtig der mangelhafte Zugang zu den Allgemeingütern einer Gesellschaft.
Beispiel Journalismus:
Während 25 % der bundesdeutschen Bevölkerung eine migrantische Familiengeschichte hat, gehen Schätzungen davon aus, dass in den Redaktionen dieses Landes gerade mal 2 – 3 % von ihnen vertreten sind.
Quelle
https://www.neuemedienmacher.de/journalisten-mit-migrationshintergrund/Nicht anders verhält es sich mit den Autoren, Produzenten und Regisseuren von Entertainment-Formaten.
Unsere Helden sind meistens junge, weiße, heterosexuelle Männer, öfters auch schon mal Frauen, hin und wieder auch mal alte Männer. Aber nur ganz selten (und weit unterhalb ihres gesellschaftlichen Anteils) Personen, deren Vorfahren nicht in diesem Land geboren wurden.
Wie können wir einen jungen Menschen für unsere Gesellschaft gewinnen oder gar begeistern, wenn ihr wichtigstes Versprechen, nämlich ein Leben in Gleichrangigkeit gar nicht eingelöst wird?
Wundern wir uns wirklich, dass sich ausgerechnet die Menschen, die in dieser Gesellschaft gar nicht sichtbar sind und marginalisiert werden, von ihr abwenden?
Wenn wir wollen, dass sie sich einbringen und unseren aufgeklärten Wertekonsens teilen, müssen wir auch ihnen ihre elementarsten Rechte auf Würde und Gleichrangigkeit gewähren.
„Werdet sichtbar!“ anstelle von „Integriert Euch!“
Oftmals heißt „Integriert Euch!“ nichts anderes als „Werdet unsichtbar!“. Es ist die Aufforderung, ein weitaus gleichförmigeres und angepassteres Leben zu führen, als wir es von einem „Stammbaum-Deutschen“ je erwarten würden. Jeder Fehler, jede Abweichung wird als vermeintlicher Beweis hergenommen, dass diese Person ja doch nicht „zu uns“ gehören würde.
Dabei muss die Aufforderung umgekehrt lauten: „Werdet sichtbar!“
Bringt Euch in Vereine, Parteien und kulturellen Einrichtungen ein! Betätigt Euch kreativ und in kreativen Berufen! Erzählt Eure Geschichte! Lasst‘ uns konstruktiv streiten! Gleichförmigkeit und Konformismus haben die Menschen niemals vorangebracht. Die unterschiedlichen Perspektiven und ihr Widerstreit haben die großen Innovationen hervorgebracht.
Und zur Sichtbarkeit der Vielfalt unserer Gesellschaft sollte jeder, der sich selbst für einen aufgeklärten Menschen hält, beitragen.
… oder die Sichtbarkeit wenigstens zu lassen.
Ganz gleich ob er sich selbst der „Mehrheitsgesellschaft“ zuordnet oder sich zu einer „Minderheit“ zählt.
Die zunehmenden Übergriffe auf die Schwächsten unserer Gesellschaft sind ein doppelter Angriff auf unsere Gesellschaft
... und als solcher sind sie auch gemeint.
Angriff 01:
Schrecken zu verbreiten, verfolgt natürlich eine Absicht. „Werdet unsichtbar!“ ist die (un)heimliche Botschaft, die sich hinter jeder Attacke verbirgt. Die Verdrängung aus dem Stadtbild, der Verzicht auf individuelle Rechte oder der komplette Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben, sind die offensichtlichen Minimal-Ziele dieses „politischen“ Mobbings.
Wenn man das konsequent zu Ende denkt und berücksichtigt, dass Menschen schlichtweg nicht unsichtbar werden können, kommt man zu einem furchtbaren Schluss: Am Ende der unerfüllbaren Selbstauflösungs-Aufforderung kann nur die physische Vernichtung jeder missliebigen Gruppe stehen, so wie es schon einmal in unserer Geschichte geschehen ist. Und die Hemmung, das auch offen auszusprechen schwindet in der Neuen Rechten in erschreckendem Tempo.
Angriff 02:
Aber es ist auch ein Angriff auf unsere Gesellschaftsordnung insgesamt. Die „Utopie“ der neuen Rechten ist eine Gesellschaft, die sich aus anderen „Werten“ ableitet als die unveräußerliche Menschenwürde und die Gleichrangigkeit aller Menschen.
Das „Gerechtigkeits“-versprechen der Rechten: Eine Gesellschaft ohne Menschenwürde
Dass die Rechten eine autoritäre Gesellschaft aufbauen wollen, gilt für aufgeklärte Menschen nicht als eine neue Erkenntnis. Bei der „Utopie“ der Rechten stellt sich ein kritischer Bürger meistens eine Diktatur im Endstadium vor. Stacheldraht und Maschinenpistole im Anschlag zur Unterdrückung der Bevölkerung. Dieses Bild ist zwar die logisch wahrscheinlichste Konsequenz einer Herrschaft, die mit Gewalt versucht eine gesellschaftliche Ordnung aufrechtzuerhalten, die sie ursprünglich selbst zerstört hat.
Aber dieses Bild unterschätzt die Verführungskraft und die scheinbare Plausibilität dieses „alternativen“ Gesellschaftsmodells. Jenseits aller offensichtlichen Lügen und Manipulationen, jenseits größenwahnsinniger und profilneurothischer Polit-Karrieristen, die sich im Geiste schon vorstellen, der nächste „Führer“ dieses Landes zu sein, gibt es eine ausreichend hohe kritische Masse an Menschen, die den Grundgedanken der rechten „Utopie“ für richtig halten.
Und es sind nicht alle nur stramme Nazis. Das erschreckende an diesem Gedanken ist, dass er weitaus tiefer in unserem kollektiven Unterbewusstsein verwurzelt ist, als es uns tatsächlich bewusst ist…
Anti-aufklärerische Gesellschaftsmodelle sind tief in unserem kollektiven Unterbewusstsein verankert…
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.
Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. ‚Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!‘ ist also der Wahlspruch der Aufklärung."
Quelle:
Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, Berlinische Monatsschrift, 1784, 2, S. 481–494
Diese wohl berühmtesten Worte des Philosophen Immanuel Kant haben an trauriger Aktualität nichts verloren. Gleichzeitig schildern sie auch das grundlegende Problem, mit dem die Aufklärung offensichtlich schon seit Anbeginn zu kämpfen hat: Der Mangel an Begeisterung. Ausgerechnet diejenigen, die am meisten von der Aufklärung profitieren, sind doch offensichtlich sehr zurückhaltend und skeptisch gegenüber den aufgeklärten Grundwerten.
Auch in heutigen konservativen Milieus findet sich das gleiche Misstrauen bis hin zur Ablehnung. Und selbst in Arbeiter-Milieus oder Milieus mit migrantischen Wurzeln ist jener Skeptizismus noch immer durchaus stark vertreten. Obwohl beide Gruppen von der Aufklärung eigentlich den größten Nutzen haben sollten.
Aber warum ist das so? Ich denke, es liegt an bis heute tradierte Grundwerte der feudalistischen Gesellschaft. Sie haben sich tief in unser kollektives Unterbewusstsein eingegraben. Und sie werden (trotz ihrer letzten Endes anti-individualistischen Vorstellungen) nicht durchweg negativ wahrgenommen.
Das Versprechen einer Gnadenherrschaft
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„Die Güte Deines Herren wird dafür sorgen, dass es Dir gut ergeht.“
Die feudalistische Gesellschaft war eine Gnadenherrschaft. Sie versprach „Gnade für Treue“.
Als Treue ist dabei die Treue zu einem absoluten Prinzip, also zur „Wahrheit“ zu verstehen. Diese Treue-Pflicht setzt sich dabei hierarchisch fort. Es gibt immer einen Personenkreis oder ein Individuum, der/ das dabei der „Wahrheit“ näher steht als andere Personen. Je „höher“ ein Mensch in dieser Hierarchie steht, desto mehr gilt er als Repräsentant des „höchsten“ Prinzips, der vermeintlichen Absolutheit.
Die „Gnade“ umfasst hierbei alle Formen des Wohlwollens, der nächst „höheren“ Instanz. Die „Gnade Gottes“ ist die vermeintliche Legitimierung des Königs durch Gott. Ebenfalls wird dem König vermeintlich alles Wohlwollen der göttlichen Instanz zu Teil: Gesundheit, günstige Voraussetzungen für seine Herrschaft (Bsp.: reiche Ernte) und natürlich auch ein gesunder (männlicher) Erbe.
Auf niederen Instanzen ist die Gnade die „Großzügigkeit“ des Herrschenden gegenüber dem Beherrschten. Das umfasst zumeist Versorgungsalimentierungen.
Insgesamt ergibt sich eine Hierarchie, die sich aus einer Wertevorstellung ergibt, je nachdem wie nahe ein Individuum dem höchsten, göttlichen Prinzip stehe.
Die „Gnade Gottes“ wurde unmittelbar nur dem Papst, „Gottes Stellvertreter“ zuteil. Dieser konnte wiederum Könige „zu Gottes Gnaden“ krönen.
Die Könige wiederum ließen ihre Gnade auf ihre Lehnsherren und ihren Hofstaat herab. Die Lehnsherren wiederum ihre Gnade auf ihre Leibeigenen.
„Gnade für Treue“ – Die Belohnung für „Tugendhaftigkeit“
In diesem Gesellschaftsmodell der Gnadenherrschaft werden die Ansprüche des Individuums als Teil eines Belohnungssystems verstanden. Der Nächsthöhere billigt seinem Untergebenen einen Anspruch zu (oder auch nicht). Er belohnt ihn für seine Treue und seine „Tugendhaftigkeit“. Somit hat sich derjeinige seinen Wohlstand und seinen gesellschaftlichen Rang „verdient“, selbst wenn er faktisch in die gesellschaftliche Ordnung und seinen gesellschaftlichen Stand hineingeboren wurde.
Und das gilt für den Knecht, der für seine treuen Dienste von seinem Herrn alimentiert wird, genauso wie für den König, der durch Gottes Gnade für seine Führungsaufgabe vorgesehen sei und der sich seinen Reichtum und all den Prunk damit auch verdient habe.
Die gesellschaftliche Ordnung lässt sich in dieser Vorstellung somit auf den göttlichen Willen zurückführen. „Gerechtigkeit“ heißt hier nicht, allen Menschen soll es gleich gut gehen. Es heißt vielmehr: „Wer Gutes tut, dem soll auch Gutes widerfahren.“
Eine Gesellschaft ohne Grundrechte und ohne unveräußerliche Rechtsansprüche
In dieser Gesellschaft werden alle Ansprüche eines Individuums von einem Machthaber zugebilligt. Einzig und alleine der Druck, dass seine Macht an Glaubwürdigkeit und Legitimität verliert, wenn er seiner Aufgabe als „gerechter“ Herrscher verfehlt, gewährleistet die Ansprüche des Untergebenen.
Einen Grundrechtsanspruch gibt es in einer solchen Gesellschaft nicht. Zwar gibt es auch in solchen Gesellschaften verbindliche Rechtsansprüche. Allerdings beschränken sie sich meistens auf sehr begrenzte Rechtsräume, wie z.B. dem Strafrecht oder dem kaufmännischen Recht. Ebenfalls kommen sie auch nicht allen Menschen gleichermaßen zu Gute. Teilweise handelt es sich hierbei auch nur um Privilegien, wie z.B. dem mittelalterlichen Stadtrecht.
Ebenfalls ist oftmals fraglich, ob ein Rechtsanspruch notfalls auch entgegen der „höchsten“ weltlichen oder geistlichen Instanz durchsetzbar ist und ob diese Rechtsansprüche nicht auch wieder willkürlich entzogen werden können.
Grundrechte hingegen, genießen einen besonders hohen Schutzstatus. Unveräußerliche Grundrechte aller Menschen kennt die Gnadenherrschaft nicht. Grundrechte existieren nur in Gesellschaftsmodellen, die die Gleichrangigkeit aller Menschen und ihre Menschenwürde anerkennen.
Die modernen Formen der Gnadenherrschaft
Dass wir in Zeiten leben, in denen die Scheu schwindet, offen die Menschenwürde in Frage zu stellen, ist kein Zufall. Die Sehnsucht nach einer Rückkehr zur Gnadenherrschaft und zu einem geradezu gottgleichen Belohnungssystem für die „Tugendhaften“ ist tief in unserem kollektiven Unterbewusstsein verankert.
Dass wir den Feudalismus überwunden haben, heißt nicht, dass wir die Gnadenherrschaft hinter uns gelassen haben. Sie feierte im 20. Jahrhundert in den totalitaristischen Ideologien, insbesondere im Kommunismus und im Nationalsozialismus eine grauenvolle Renaissance.
Adolf Hitler hatte das christlich-göttliche Prinzip als höchste Machtinstanz ersetzt durch das „Schicksal“, dass ihn für seine Aufgabe auserkoren habe.
Dennoch weist die nationalsozialistische, streng hierarchische Gesellschaft alle Merkmale einer Gnadenherrschaft auf. Und hier bedeutet die Treue umso mehr „Treue zu Führer und Vaterland“. Und im Motiv des Soldatischen, spiegelt sich diese Wertvorstellung wider, wie sonst in kaum einem andere.
„Treue und Ergebenheit bis in den Tod“
Auch heute noch wird dieses Prinzip bei der entsprechenden Klientel als „höchste Form der Tugendhaftigkeit“ verehrt. Und in der scheinbar unpolitischen Haltung eines Soldaten wird ein ausreichender Abstand zum NS-Staat und zur NS-Ideologie behauptet, um diese „Tugendhaftigkeit“ als vermeintlichen Selbstzweck zu verehren.
Dabei ist genau diese selbstverneinende, anti-individualistische und inhumane Kadavertreue eine exakte Spiegelung der nationalsozialistischen Weltanschauung.
Kommunismus – Objektivistische Implikationen als Ersatz für das Göttliche
Doch es bedarf nicht immer eines göttlichen Prinzips, um eine Gnadenherrschaft mit Absolutheits-Anspruch zu errichten. Der Kommunismus leitete seine Wahrheitsansprüche aus der Annahme ab, dass es eine objektive Wahrheit gäbe, die zu erkennen und in die sich zu fügen die oberste Pflicht eines Individuums sei.
Es ist ein Gesellschaftsmodell, dessen hierarchischer Aufbau sich aus der vermeintlichen Fähigkeit eines Menschen ableitet, die Welt objektiv zu erkennen und zum Wohle aller zu gestalten. Dabei hätten einige Menschen vermeintlich die höhere Gabe zur „objektiven“ Erkenntnis.
Hier ist die Gnadenherrschaft eine Herrschaft der Begnadeten über die weniger Begnadeten. Aber alle weiteren Implikationen sind identisch mit denen anderer Modelle einer Gnadenherrschaft.
Auch hier gilt: „Gerechtigkeit“ sei ein „Anrecht der Tugendhaften“. Der Unterschied beispielsweise zum Feudalismus liegt darin, dass weniger ein Belohnungssystem geschaffen wird, das die Ungleichheit zwischen den Menschen fördert, als vielmehr ein Versorgungssystem, das ganzen Kollektiven den Anspruch auf Versorgungsgüter zuerkennt oder abspricht.
Auch hier befindet ein „Begnadeter“ über die Ansprüche der zur Treue verpflichteten Untergebenen.
Die Narrative der Gnadenherrschaft
Sternthaler (Gebrüder Grimm)
Ein junges Mädchen, das außer seiner Kleidung und einem Laib Brot nichts besitzt, verschenkt selbst sein buchstäblich letztes Hemd und sein Brot an noch bedürftigere. Es wird daraufhin vom Himmel reich mit Goldtalern für sein tugendhaftes Verhalten belohnt.
Es spielt in einer Gesellschaft, in der Menschen, die in Armut leben, keinen Anspruch auf eine Existenzsicherung haben. Dass in einer solchen Gesellschaft sich die Menschen untereinander unterstützen, ist naheliegend. Daran ist auch nichts verkehrt. Dennoch besteht der Konstruktionsfehler darin, diesen Wertekanon aus der voraufgeklärten Gesellschaft in unsere Gesellschaft zu transportieren.
Bedürftige sollten langfristig nicht auf die „Großzügigkeit“ von Einzelpersonen angewiesen sein. Die gesellschaftlichen Missstände, die Armut hervorbringen, müssen vor allem politisch bekämpft werden. Einzelfall-Hilfen sollten nur im Notfall, jedoch nicht im Regelfall erforderlich sein.
Außerdem drückt das Sternthaler-Märchen eine Geisteshaltung vieler „Tugendhafter“ aus. Ihre Entlohnung wird in einen moralischen Kontext gerückt. Es entsteht die Erwartungshaltung, für die eigene, vermeintliche Tugendhaftigkeit einen besonderen Anspruch auf eine Belohnungzu haben – unabhängig von der Entlohnung, die sie tatsächlich erhalten haben.
Und so liefern die vor-aufgeklärten Werte, die das Sternthaler-Märchen transportiert, eine beliebige Erklärungsschablone, mit der sich die Verachtung eigentlich jeder gesellschaftlichen Gruppe außer der eigenen vermeintlich rechtfertigen lässt.
Empfängern von Sozialleistungen, wie beispielsweise Arbeitslosengeld II oder jüngst auch Geflüchteten, die überwiegend mit einem Minimum an Sachleistungen versorgt werden, wird vorgeworfen, sie hätten ja nichts geleistet, was eine existenzsichernde Maßnahme überhaupt rechtfertigen würde.
Aber die Sternthaler-Moral geht auch in andere Richtungen. Die in manchen Diskussionen zur Moral-Ikone stilisierte Putzfrau wird als Maßstab für eine „gerechte“ Vergütung hergezogen. Warum solle sie weniger verdienen, als der Manager eines Unternehmens, der Grafik-Designer oder der Teamleiter, lautet die entsprechend simple Forderung. Der Verdacht liegt nahe, dass es dem Vertreter einer solchen Anschauung gar nicht um das materielle Wohl der Putzfrau geht, sondern vielmehr um sein eigenes.
Das Sternthaler-Märchen kann ebenso dazu verwendet werden, um den Status Quo einfach nur festzufrieren. Herr und Frau X hätten ja schließlich hart und fleißig für ihr Vermögen gearbeitet. Der Fleiß zeige sich ja an der sauber geschnittenen Hecke ihres Reihenhauses. Und die Tugendhaftigkeit an den Spenden für die „3. Welt“ jedes Jahr zu Weihnachten.
Es interessiert mich wirklich nicht, womit und wie viel Herr und Frau X pro Jahr verdienen und wie sie ihr Geld ausgeben. Es sei ihnen gegönnt. Hingegen halte ich jedoch die Gleichsetzung eines sozialen Status mit einem vermeintlichen Beweis für Fleiß und Tugendhaftigkeit für eines der unerträglichen Relikte einer voraufgeklärten Gesellschaft.
Die Grille und die Ameise (Jean de La Fontaine)
Die meisten Menschen kennen diese Geschichte vermutlich noch aus ihrer Kindheit, mit einem eher fröhlichen Ende. Die Ameise teilt ihre Nahrung, da sie ja im Sommer auch gerne der Musik der Grille gelauscht hatte. Hierbei handelt es sich aber nicht um die ursprüngliche Version. Es handelt sich um eine Bearbeitung, die eher zum humanistischen Zeitgeist der 1980er Jahre passte.
Quelle:
http://www.zeno.org/Literatur/M/La+Fontaine,+Jean+de/Versfabeln/Fabeln/Die+Grille+und+die+AmeiseDie meisten Menschen kennen vermutlich noch diese Geschichte aus ihrer Kindheit, mit einem eher fröhlichen Ende. Die Ameise teilt ihre Nahrung, da sie ja im Sommer auch gerne der Musik der Grille gelauscht hatte. Hierbei handelt es sich aber nicht um die ursprüngliche Version. Es handelt sich um eine Bearbeitung, die eher zum humanistischen Zeitgeist der 1980er Jahre passte.
Die Botschaft der Geschichte von Jean de La Fontaine ist eindeutig: Kreative Arbeit ist nicht gleichrangig mit produktiver Arbeit. Und wer nicht produktiv arbeitet, der hat auch keinen Anspruch auf ein Existenzrecht. Das elementarste Grundrecht des Menschen, das unsere Gesellschaft notwendigerweise in der Verfassung verankert hat, zählt im Narrativ von Jean de La Fontaine (und vermutlich im Geiste seiner Zeit) gar nichts und kann aufgrund mangelnder „Tugendhaftigkeit“ auch allzu leicht aberkannt werden.
Moderne Adelsgeschichten
Eine unverblümte Romantisierung des Fürsten-Untertanen-Verhältnis finden sich in den modernen Adelsgeschichten wieder. Sie spielen oftmals im 19. oder frühen 20. Jahrhundert und drücken die angebliche Tragik aus, dass die Ära der gesellschaftlichen Vormachtstellung des Adels zu dieser Zeit zu Ende ging.
Aus kulturellem Interesse habe ich mir die erste Staffel von „Downton Abbey“ angetan. „Gut“ und „Böse“ sind recht schnell und einfach identifiziert. Der gütige und kluge Fürst sorgt kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges für seine Untergebenen wie ein Vater für seine Kinder. Und wie Kinder führen sich auch seine bediensteten Dienstmägde auf. Geradezu bis ins Lächerliche werden sie von den Autoren zu unmündigen, gackernden Hühnern degradiert, die selbst mit dem Anschalten des neu installierten elektrischen Lichts überfordert sind.
Der Schurke in diesem Dramolett ist ein junger, intriganter Kammerdiener, der sich nicht in seine ihm zugedachte Rolle fügen möchte und es wagt, von seinem eigenen gesellschaftlichen Aufstieg zu träumen. In diesem spät-feudalistischen Wertekorsett eine Todsünde.
Und der plakative Kontrast zu diesem „verkommenen Subjekt“ stellt die „Lichtgestalt“ des persönlichen Butlers des Fürsten dar. Er ist hingebungsvoll und pflichtbewusst. Er ist seinem Herren treu ergeben. Und um diese „selbstlose Treue“ noch zu unterstreichen, haben die Autoren ihn als Soldaten angelegt, der in treuer Pflichterfüllung während des Krieges eine schwere Verwundung davon getragen hatte.
Noch deutlicher kann ein Autoren-Team ihre Schwärmerei für eine voraufgeklärte Gesellschaft nach feudalistischem Vorbild kaum noch darstellen…
Ritter- und Wikinger-Geschichten
Ebenfalls sehr deutlich wird das Prinzip „Gnade für Treue“ aber auch bei Ritter- und Wikinger-Geschichten. Oftmals sind sie vermischt mit Motiven der nordischen Sagenwelt und im Fantasy-Genre angesiedelt.
Die Treue der Gefährten untereinander und die Treue des Gefolges zu ihrem Anführer sind beliebte Themen dieses Genres. Bitte versteht mich nicht falsch. Als pure Unterhaltung machen diese Geschichten durchaus Spaß. Aber ich würde mir dennoch ein kritisches Auge auf ihr Narrativ wünschen.
Es überrascht kaum, dass diese und ähnliche Narrative in der rechten Subkultur sehr präsent sind. Sie tragen zur Romantisierung des in dieser Szene zelebrierten Führer-Prinzips bei.
Treue wird zum Selbstzweck stilisiert.
Ob Ritter, Wikinger-Krieger oder Soldaten – sie alle repräsentieren das Hauptmotiv dieses Narrativs: „treu bis in den Tod“. Welches „Opfer“ kann wohl selbstloser sein als dieses?
Und so wird eine „Tugendhaftigkeit“ zusammengedichtet, die scheinbar völlig unpolitisch ist. Diese Verklärung, gibt sich den Anschein, selbst nichts mit den Verbrechen des Befehlshabers zu tun zu haben. Es sei ja schließlich bloß eine „Pflichterfüllung“ gewesen. Und diese „Treue-Pflicht“ gilt den Vertreter eines solchen Werte-Kanons offensichtlich als unhinterfragbar und unabdingbar.
Schicksal eben.
Anbei: Das „Schicksals“ ist natürlich ebenfalls ein sehr beliebtes Motiv im rechten Narrativ.
Aber wie gesagt: In Unterhaltungsformaten sind die Motive so lange unproblematisch, solange sie nicht einfach nur unkritisch wegkonsumiert werden oder gar zur Verklärung fragwürdiger Heldenbilder und Werte-Kanons führen.
Leider speisen sie jedoch nur allzu häufig das kollektive Unterbewusstsein mit wirk-mächtigen Motiven, die eine Romantisierung von voraufgeklärten Gesellschaftsmodellen und „Herrscher-Knecht“-Verhältnissen mit sich führen.
Nur wenige Menschen müssen von der Aufgeklärten Gesellschaft überzeugt werden. Aber eine Mehrheit muss für sie begeistert werden.
Die Neue Rechte hat unsere Gesellschaft über Jahrzehnte genau studiert. Ihre Stärken. Ihre Schwächen. Rechte Provokateure wissen ganz genau, warum sie ausgerechnet die Menschenwürde angreifen. Sie tun das, in dem sie Menschen erniedrigen, körperlich oder psychisch verletzen, sie in anderer Weise existenziell angreifen oder einfach „nur“, indem sie die Unveräußerlichkeit der Menschenwürde grundsätzlich in Frage stellen.
Sie wissen ganz genau warum: Unsere Gesellschaft basiert auf der Menschenwürde. Ihre gesamte Existenz baut auf der Gleichrangigkeit aller Menschen auf. All unsere Grundwerte, von denen wir jeden Tag profitieren, leiten sich aus ihr ab. Auch wenn uns das kaum noch bewusst ist, weil es uns so selbstverständlich erscheint. Ohne Menschenwürde wäre es eine andere Gesellschaft. Und es wäre keine gute.
Die Rechten greifen unsere Grundüberzeugungen zu einer Zeit an, in der sich schon Anzeichen einer Ermüdung zeigen. Sind wir wirklich davon überzeugt, dass die hohen Ideale der Aufklärung verwirklicht wurden? Leben wir in einer Gesellschaft, in der der Gleichheitsgedanke tatsächlich verwirklicht wurde? Leben wir in diesem Sinne in einer ‚gerechten‘ Gesellschaft?
Die Rechten sind gut geschult darin, unsere berechtigte Skepsis und Kritik an unserer Gesellschaft für ihre Agitation zu instrumentalisieren.
Wir müssen weiter daran arbeiten, dass unsere Gesellschaft den anspruchsvollen Werten der Aufklärung auch wirklich gerecht wird. Und dieses Ziel haben wir noch lange nicht erreicht. Aber eine „Alternative“ zu einer Gesellschaft mit dem zentralen und elementaren Wert der unveräußerlichen Menschenwürde dürfen wir nicht zulassen.
Wir müssen die Begeisterung für die „heiligsten“ Werte unserer Gesellschaft wiederentdecken, anstatt uns von den rechten Agitatoren zur Aufgabe ihres Kerngedankens drängen oder uns gar zu anderen Gesellschaftsmodellen verführen zu lassen.
Berlin, 01.11.2018
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